Hans Martin Balz, Glockensachverständiger der EKHN
Läuteordnungen und ihre Bedeutung
Geschichtliche und praktische Hinweise zum Gebrauch der Kirchenglocken von Hans Martin Balz, Glockensachverständiger der EKHN (aus Kirchenmusikalische Nachrichten des Amts für Kirchenmusik, Frankfurt Jahrgang 43, Nr.3, Juli/Sept. 1992)
1. Bedeutung und Funktion der Glocken
Glocken sind als Musikinstrumente die verbreitetsten und größten Freiluftinstrumente. Sie zählen zu den frühesten Erfindungen der Menschheit. Von Anfang an hatten sie religiöse Bedeutung. Sie sollten böse Geister verjagen und gute anlocken, wodurch sie im religiösen Ritus den heiligen Ort schützen konnten. Die Glocken wurden aber auch profan, als Signalgeber benutzt, weil ihr Ton über weite Entfernungen zu hören ist. Die frühe Christenheit hat die Glocken wie überhaupt alle Musikinstrumente wegen ihrer heidnisch-magischen Bedeutung zunächst abgelehnt; Paulus vergleicht den Menschen ohne Liebe tönendem Erz oder einer klingenden Schelle. Vom vierten Jahrhundert an aber dienten sie in den Klöstern als Signalgeber, um die Mönche zu den täglichen Gebetszeiten und zu den Gottesdiensten zusammenzurufen. Dieser Brauch wurde von den Weltkirchen übernommen. Vom sechsten Jahrhundert an verbreiteten sich die Glocken, ausgehend vom Orient, über Frankreich und Italien in ganz Europa. Die bis heute gültigen Funktionen des Läutens sind es, (1) die Gläubigen zum Gottesdienst einzuladen, (2) während der Gottesdienste auf bestimmte Vorgänge (Vaterunser, Sanctus, Taufe, Einsegnung, Trauung) hinzuweisen und dadurch die nicht in der Kirche Anwesenden zum teilnehmenden Gebet aufzurufen, und (3) mehrmals täglich zum Gebet zu mahnen. Die heidnisch-magische Bedeutung, die das Christentum negiert hatte, behielt im Mittelalter trotzdem eine gewisse Bedeutung. Viele Glockeninschriften aus jener Zeit bezeugen, daß man dem Glockenklang die Macht zutraute, Unwetter zu vertreiben. Bis in unsere Zeit wurden Glocken auch für profane Zwecke genutzt, sei es durch besondere Glocken in städtischem Besitz, sei es durch das sogenannte bürgerliche Läuten der Kirchenglocken. Heute wird Glockengeläut vorrangig als Stimme der Kirche verstanden. Meist aber auch nicht mehr als das, obwohl so verschiedenartig geläutet werden kann, daß das Geläut eine richtiggehende Sprache sprechen kann, die bestimmte Informationen weitergibt. Musikalische Variationsmöglichkeiten bestehen nicht nur in der Zusammenstellung mehrerer und dem Alleinläuten einzelner Glocken, sondern auch in den verschiedenen Läute- oder Anschlagsarten. Dadurch kann den verschiedenen kirchlichen Anlässen ein spezifisches Geläute zugeordnet werden. Wird das in einer Läuteordnung fixiert und bekanntgemacht, dann hat das Geläut ihrer Kirche einer Gemeinde ganz Spezielles zu sagen. Jede Läuteordnung muß besonders ausgearbeitet werden, weil nicht nur die Geläute, sondern auch die örtlichen Traditionen, Erwartungen und Möglichkeiten verschieden sind. Hinweise für das Aufstellen von Läuteordnungen gibt der folgende Text. Die geschichtlichen Notizen, die sich neben anderen Quellen auf die Läuteordnung der Stadt Schotten von 1678 (siehe Literaturverzeichnis) stützen, sind ein erster Versuch, die bisher kaum berücksichtigten lokalen Traditionen einzubeziehen und zu erläutern. Das beigefügte Formular soll es erleichtern, eine Läuteordnung aufzustellen. Es kann auch als Aushang bei der Bedienungseinrichtung (Schalttableau) dienen. Deshalb sind darin auch die wichtigsten Läuteregeln zusammengefaßt.
2. Anschlagsarten
2.1 Die verbreitetste Art der Tonerzeugung bei Glocken ist das normale Läuten. Die Glocke wird durch Ziehen eines Seils oder durch eine elektrische Maschine zum Schwingen gebracht, wobei der Klöppel an die Wandung schlägt. Handläuten durch Seilziehen ist eine Kunstfertigkeit und bedarf einer Einweisung. Handgeläutete Glocken klingen besonders schön wegen der leichten Ungleichmäßigkeit des Läutevorgangs. Handläuten kann als besonderer Part bei der Gestaltung des Gottesdienstes angesehen werden.
2.2 Beim Halbzugläuten wird die Glocke so schwach bewegt, daß der Klöppel ruhig hängen bleibt und nur eine Wandung gegen ihn schlägt. Die Anschlaggeschwindigkeit wird halbiert, und die Glocke klingt leiser. Das ist nur beim Handläuten möglich. Das Halbzugläuten wird auch Kleppen (Klempen, Glempen, Glemmen) genannt und als Trauergeläut verwandt.
2.3 Beim Anschlagen wird die ruhig hängende Glocke mit dem Klöppel, der durch ein Seil bewegt wird, oder aber durch einen Uhrschlaghammer mehrmals angeschlagen, so beim Betglockenanschlag oder als Nachschlag zum Geläut an Bußtagen oder am Karfreitag.
2.4 Beim Beiern oder Stückläuten wird die ruhig hängende Glocke durch den Klöppel wie unter (3) angeschlagen, aber in bestimmten Rhythmen.
2.5 Das Zimbeln oder Buntläuten ist eine Mischung von normalem Geläut und Beiern oder Halbzugläuten. Ersteres ist gebräuchlich an Festtagen. Ein Beleg dafür findet sich in Schotten 1678: An den hohen Festen wird beim Einläuten während des Alleinläutens der großen Glocke "unter dieße (...) auf der Bürgerglocke zwischen jedem Schlag zweymal untergeschlagen", beim Hauptgeläute zur Morgenpredigt wird beim Läuten der großen Glocke auf der Bürgerglocke "gespielt". Die unter (2) bis (5) genannten Anschlagarten sind in Hessen heute kaum noch gebräuchlich. Sie können die Vielfalt des Läutens bedeutend steigern.
3. Verwendung einzelner und mehrerer Glocken
Jede Glocke kann und soll auch einzeln verwendet werden, besonders dann, wenn durch ihren Namen eine Funktion angedeutet ist, etwa als Sterbe- oder Vaterunser-Glocke. Das Zusammenläuten von zwei und mehr Glocken nennt man Gruppengeläute. Welche Glocken zusammen geläutet werden, ist nach musikalischen Gesichtspunkten zu entscheiden. Schotten 1678 kennt das Nacheinanderläuten mehrerer Einzelglocken sowohl als selbständiges Geläute wie auch mit nachfolgendem Gruppengeläute. Ein Gruppengeläute oder das Plenum (Geläut sämtlicher Glocken) kann durch einen Vorspann (Signieren) oder Nachspann besonders gekennzeichnet werden. Beim Vorspann geht dem Gruppengeläut das Läuten einer einzelnen oder auch zweier hoher Glocken voran, die an dem Gruppengeläut möglichst nicht beteiligt sind. Zwischen beidem liegt eine Pause von 5 bis 10 Sekunden. Der Vorspann zeigt Besonderheiten eines Gottesdienstes an: Festtag, Abendmahl (falls es nicht regelmäßig gefeiert wird), Taufen. Der Nachschlag ist ein Nachläuten der tiefsten beteiligten Glocke nach dem Gruppengeläut, etwa eine habe Minute lang und von jenem durch eine Pause von 5 bis 10 Sekunden getrennt. Statt des Nachläutens kann diese Glocke auch 3 x 3 Mal angeschlagen werden, z. B. an Karfreitag, Bußtag oder bei Passionsandachten.
4. Läuteregeln
Einsatzfolge: Läuten mehrere Glocken (Gruppengeläut oder Plenum), beginnt die kleinste. Erst wenn diese voll ausschwingt, also in gewissem Abstand, soll die nächst größere hinzukommen, die übrigen entsprechend später. Ausgeläutet wird in der gleichen Reihenfolge. Die kleinste Glocke schweigt zuerst, die tiefste Glocke läutet bis zuletzt. Da die Glocken von der größten an durchnumeriert werden, beginnen Ein- und Ausläuten bei der Glocke mit der größten Ordnungszahl und enden bei der Glocke mit der kleinsten Ordnungszahl. Läutedauer: Ein sogenannter Puls währt fünf bis sieben Minuten. Bei festlichen Anlässen können ein bis zwei weitere Pulse folgen, die durch Pausen von je zwei bis drei Minuten Dauer voneinander getrennt werden. Dies empfiehlt sich besonders bei kleinen Geläuten, die sonst wenig differenziert werden können.
5. Anlässe zum Läuten, Läutearten
5.1 Gottesdienste an Sonn- und Feiertagen
Zum Sonn- und Feiertag gehört das Einläuten am Vorabend. Es ist der Überrest eines weggefallenen Vespergottesdienstes. Der Vorabend gehört liturgisch nach alter Auffassung schon zum folgenden Tag. Deshalb wird der Sonn- und Feiertag am Vorabend mit dem gleichen Geläut eingeläutet, das dann auch zum Hauptgottesdienst ruft. Früher wurde das Einläuten offenbar gern mit der Betstunde oder, wenn sonntags Abendmahl gefeiert wurde, auch mit der Beichte verbunden. In Breidenbach läutete man 1628 sonnabends um 13 Uhr mit allen Glocken zur Betstunde, gegebenenfalls mit angehängter Beichte, "nach altem Brauch" (Diehl, 220). In Schotten 1678 läutete man samstags um 12 Uhr zur Betstunde oder Beichte. Das Läuten zu den Gottesdiensten am Heiligen Abend, die ja heute noch gelegentlich Vesper genannt werden, ist genauso zu behandeln wie das Einläuten.
Das nächtliche Läuten in der Weihnachts- oder Osternacht gehörte ursprünglich zu Frühgottesdiensten (Metten). In Ober-Ramstadt läutete noch in den 50er Jahren in der Weihnachtsnacht von vier bis fünf Uhr das Plenum.
Vor den Hauptgottesdiensten können besondere Glockenzeichen (Vorläuten) gegeben werden, entweder zwei und eine Stunde vor Beginn, oder eine und eine halbe Stunde, oder eine halbe und eine viertel Stunde. Das Läuten zu Beginn des Gottesdienstes wird auch Zusammenläuten genannt, weil hierbei die meisten oder alle Glocken beteiligt sind. Durch besondere Glockenzeichen (Vorspann, Signieren) in Verbindung mit dem Vor- und Zusammenläuten können Besonderheiten des Gottesdienstes angezeigt werden (Taufe, Abendmahl, s. Abschnitt 3). Das Zusammenläuten vor dem Hauptgottesdienst kann nach dem Kirchenjahr verschieden sein. Wenn mehr als drei Glocken vorhanden sind, wird die größte Glocke nur an den hohen Festen (Christusfesten) verwendet. Bei kleineren Geläuten kann ein Vorspann diese Feste anzeigen. Andere Gottesdienste (Früh-, Abend-, Kinder-, Taufgottesdienst) werden mit einem kleineren Gruppengeläut eingeläutet. An Bußtagen und am Karfreitag wird zum Gottesdienst nur mit der größten Glocke geläutet. Das an manchen Orten übliche Ausläuten des Sonntags ist wie das Einläuten am Vorabend als übriggebliebenes Vespergeläut zu verstehen und entspricht dem Zusammenläuten zum Hauptgottesdienst.
5.2 Wochengottesdienste
Es handelt sich dabei vor allem um Wochenschluß-, Advents- und Passionsandachten. Für diese wird ein kleineres Gruppengeläut verwendet. Das Läuten zu den Gottesdiensten am Heiligen Abend entspricht dem Läuten zur Vorabendvesper (siehe 1) und wird deshalb auf das Läuten an den Weihnachtsfeiertagen selbst abgestimmt.
5.3 Tauf- und Trauergottesdienste
Bei ihnen wird wie für die Wochengottesdienste mit einem kleineren Gruppengeläut geläutet.
5.4 Glockenzeichen während der Gottesdienste
Sie sind eine uralte Sitte. Das Läuten zum Vaterunser wird schon im Visitationsabschied von 1629 bezeugt. In der Regel war das (still gebetete) Vaterunser "unter einem Glockenzeichen" der Abschluß der Gottesdienste nach dem Segen (Diehl, 164, aus 1689). Schotten 1678 erwähnt ausdrücklich das Läuten zum Pater noster "Nach der Bätstund und allen Kirchen" (...) "mit der kleinen Glock". Die Agende von 1724 kommentiert das Läuten zum Vaterunser nach der Predigt wie auch in der Betstunde so: "denen so ausser der Kirchen seynd zum Zeichen / daß sie mit denen / so im Gottes hauß seynd / ihre Hände zu Gott auffheben und mitbeten sollen" (S. 477). Auch zur Taufe wird geläutet, ebenso während der Einsegnung bei Trauung und Konfirmation. An Bußtagen kann während des Bußgebetes geläutet werden, Schotten 1678 erwähnt an Bettagen das Läuten während des ersten Verses des gesungenen Credo. Die lutherische Tradition kennt das Läuten zum Sanctus beim Abendmahl und, nur am Gründonnerstag, zum Gloria in excelsis.
5.5 Läuten bei Beerdigungen
Zu unterscheiden ist das Läuten, das einen Sterbefall anzeigt, und das eigentliche Beerdigungsgeläute. Zur Anzeige eines Sterbefalls wird die Sterbeglocke zu bestimmter Tageszeit geläutet (Ober-Ramstadt 13 Uhr), oder es wird eine Glocke 3 x 3 Mal angeschlagen (Breidenbach 17 Uhr). Schotten 1678 ordnet drei "distincta signa" an, "sobald jemand gestorben", also ohne Festlegung der Tageszeit. Wo es keine örtliche Tradition gibt, ist das Läuten nach einem Sterbefall zu einer bestimmten Zeit sinnvoll, etwa gegen Abend. Das Läuten zur Beerdigung selbst war früher bestimmt durch den Umstand, daß der Trauerzug sich vom Trauerhaus bis zur Kirche bewegte und nach der Trauerfeier der Sarg zum Grab auf den die Kirche umgebenden Friedhof getragen wurde. (Bis ins 19. Jahrhundert waren regelmäßig die Friedhöfe bei den Kirchen.) Schotten 1678 setzt fest, daß mit einer Glocke geläutet wird, wenn die Schüler, die bei dem Trauerzug singen sollen, aus der Kirche gehen. Wenn der Trauerzug sich in Bewegung setzt, wird mit allen Glocken geläutet. Heute wird, so fern die Kirche in der Nähe des Friedhofs liegt, zum Beginn der Trauerfeier mit einer Glocke geläutet und währen des Weges zum Grabe mit mehreren Glocken oder nur mit der größten. Ist der Friedhof weit von der Kirche entfernt, wie in Großstädten meistens, kann zur Zeit der Beerdigung mit den Kirchenglocken ein Gedenk- und Gebetszeichen gegeben werden. Verfügt die Trauerhalle über eine Glocke, läutet diese zu Beginn der Trauerfeier und während des Weges zum Grabe. Die Lebensordnung der Ev. Kirche in Hessen und Nassau erwähnt das Läuten der Kirchenglocken "als Ruf zum Gebet und zum Gottesdienst bei einer kirchlichen Bestattung", "wo es üblich ist". Bei Beerdigungen durch andere Kirchen kann der Kirchenvorstand auf Antrag das Läuten erlauben, wenn diese Kirchen der "Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in Deutschland" angehören. (Amtsblatt EKHN 1988 Nr. 2, S. 23)
5.6 Das tägliche Gebetsläuten
Das morgendliche Gebetsläuten wurde durch Papst Urban im 11. Jahrhundert eingeführt, vermutlich auch das Abendläuten. Das Läuten zu Mittag kam unter Papst Calixt III. im Jahr 1455 hinzu (Niemann). Es wurde Ave-Maria- oder Angelusläuten genannt nach dem Gebet, das während Läutens gesprochen werden sollte. Als die Reformation dieses Gebet abschaffte, verlor das Läuten seinen unmittelbaren Sinn, wurde aber zur Ordnung des Tageslaufs beibehalten. Nach Meinung des hessen-darmstädtischen Visitatoren 1628 diente das Läuten um 4, 11 und 20 Uhr weltlichen Zwecken: "Abends und Morgens soll man ein Zeichen leutten, so lang biß ein Hund ein meil weges lauffen könte, umb der reisenden, Irrenden und anderer Gelegenheit willen, das hetten die Alten gesagt." (Diehl, 66) Der Reichsabschied des Reichtages zu Regensburg 1594 ordnete das Läuten einer Mittagsglocke an als Aufruf zum Gebet gegen die Türken. Demzufolge verfügte Landgraf Georg I. im gleichen Jahr in einem Ausschreiben, daß eine Stunde nach dem Mittagsläuten (das um 11 Uhr üblich war), also um 12 Uhr, "ein sonderbar [= besonders] kirch geleutte und Zeichen, oder wo es nicht breuchlich, sonsten umb dieselbige Zeit ein Glockenschlag oder drei kurz ufeinander zu erinnerung zum gebett geschehe." (Diehl, 63) 1628 wird die mehrmals wöchentlich zu haltende Betstunde in Zusammenhang mit dem 12-Uhr-Läuten erwähnt. In Ober-Ramstadt wird 1652 angeordnet, der Glöckner habe täglich um 4, 11 und 20 Uhr "einen guten puncten auf ein Virtl. Stund, zu rechter Zeit zu läuten, darnach sich die Arbeiter im feld u. zu Hauß, wie auch die Wanders Leuthe zu richten haben. Auch ist er schuldig, alle u. jede Tage, auf vorhergehenden Befehl deß Pfarrherrn zu Mittag um 12 Uhr in die Bet-Stunde zu läuten, die Leute zum andächtigen Gebet, und herzl. Danksagung zu erinnern." Die Hessen Darmstädtische Bettagsordnung von 1631 führte eine tägliche Betglocke um 10 Uhr ein, die von 1632 eine weitere um 17 Uhr, Das Tagesläuten umfaßte seitdem das herkömmliche, vorreformatorische Läuten um 4, 11 und 20 Uhr, außerdem das Gebetsläuten um 10 Uhr (seit 1631), 12 Uhr (seit 1594) und 17 Uhr (seit 1632). Das tägliche Läuten wurde aber auch von Fall zu Fall nach der Jahreszeit und den Bedürfnissen der Bevölkerung abgewandelt. Schotten 1678 verzeichnet ein besonders reiches Tagesläuten:
von Martini bis Lichtmeß um 4 Uhr zwei Glocken einzeln nacheinander, bei Tagesanbruch die große Glocke,
um 10 Uhr die kleine und große Glocke zusammen,
um 11 Uhr eine Glocke allein,
um 12 Uhr zur Betstunde die kleine und die große Glocke nacheinander,
von Petri bis Michaelis um 16 Uhr die kleine und die große Glocke nacheinander,
um 17 Uhr die kleine und die große Glocke nacheinander,
um 20 Uhr die kleine Glocke, in der Sommerzeit auch in der Dämmerung.
In Alsfeld läutete man um 1900 so: sommers um 4 Uhr mit Glocke III, im Winter von Michaelis bis Walpurgis um 5 Uhr mit Glocke III, um 10 Uhr mit Glocke I, um 11 Uhr mit Glocke III, um 12 Uhr mit Glocke I 3 Züge "nach dem anderen Glöcklein", im Winter von Michaelis bis Walpurgis um 14 Uhr mit Glocke III, im Sommer um 15 Uhr mit Glocke III, um 17 Uhr mit Glocke I und um 21 Uhr mit Glocke III.
Ober-Ramstadt hat bis in die Gegenwart Läuten um 10 Uhr und 17 Uhr mit Glocken II und III, um 11 Uhr mit II, im Winter um 20 Uhr mit I und im Sommer um 18.30 mit II. Heute besteht nur noch wenig Bedürfnis nach Läuten als Zeitangabe oder als Orientierung für verirrte Wanderer. Sechsmaliges tägliches Läuten wird man als Gebetsläuten für zu häufig ansehen. Auch das extrem frühe Morgenläuten wird kaum noch erwünscht sein. Beim Festlegen eines drei- oder viermaligen Gebetsläuten wird man sich an die örtliche Überlieferung halten, dabei jedoch auf die heutigen Lebensformen achten. Morgen- und Abendläuten fallen an Sonntagen nicht aus.
5.7 Läuten ohne kirchliche Funktion (bürgerliches Läuten)
Früher wurden die Kirchenglocken oft aus besonderen, nicht kirchlichen Anlässen geläutet: bei Siegen, Siegesfeiern oder Geburtstagen des Landesherrn, aber auch bei Katastrophen wie Unwettern oder Bränden (Sturmläuten). Davon ist nur das Läuten in der Neujahrsnacht übriggeblieben. Anstelle des früher einstündigen Läutens läutet man heute kürzer. Zu empfehlen sind zwei bis drei Pulse von je 5 bis 7 Minuten. Noch heute haben die bürgerlichen Gemeinden das Recht, die Kirchenglocken "in allgemeinen Notfällen wie Feuersgefahr, Hochwasser oder sonstigen katastrophenartigen Unglücksfällen zu benutzen" (Hessen-Darmstädtisches Gesetz das Eigentum an Kirchen und Pfarrhäusern betreffend vom 6. 8. 1902).
5.8 Volkstümliche Deutungen des Glockenläutens
Wie bereits erwähnt, sind bestimmte Läutesitten als Überreste längst weggefallener Gottesdienste zu erklären. Das Ein- und Ausläuten der Sonntage gehörte ursprünglich zur Samstags- und Sonntagsvesper, und das nächtliche Läuten in der Weihnachtsnacht lud zur Christmette ein. Gerade dieses Läuten verlockte zu volkstümlichen Deutungen, sobald der eigentliche Anlaß nicht mehr bewußt war; auch der Gedanke vom Ein- und Ausläuten ist ja bereits recht äußerlich. So kennt man noch heute in Leeheim in der Weihnachtszeit ein mehrmaliges, jeweils halbstündiges Läuten. Das am Heiligen Abend um 16 Uhr wird als Heubündeltragen, das am gleichen Tag um 20 Uhr als Herbeiläuten des Christkindes zur Bescherung, das in der Weihnachtsnacht um 4 Uhr als Hinaufläuten des Christkindes in den Himmel, das am Silvestertag um 16 Uhr als Läuten zum Bäumebinden gedeutet. Solche Erklärungen können mit mancher naiven Darstellung der Weihnachtsgeschichte in der Malerei wetteifern. Dieses Läuten erinnert an die zahlreichen Gottesdienste und ihren Glanz, mit welchen in früherer Zeit die kirchlichen Hauptfeste ausgezeichnet wurden, und gibt jenen Tagen einen besonderen Charakter, auch wenn die Bedeutung im ursprünglichen Sinn nicht mehr bekannt ist. Die volkstümlichen Deutungen verankern dieses Läuten im Bewußtsein der Gemeinden und sollten deshalb verständnisvoll aufgenommen werden. Das Läuten ohne gottesdienstlichen Anlaß einfach abzuschaffen, nähme den Festtagen etwas vom äußeren Ausdruck der Festlichkeit und ließe die Läuteordnung in bedauerlicher Weise verarmen. Wünschenswert wäre es, solche volkstümlichen Deutungen aufzuzeichnen und zu sammeln, weil sie auch Bedeutung für die musikalische Volkskunde haben.
6. Literatur
Agenda, d. i. Kirchen=Ordnung […] im Fürstenthum Hessen-Darmstadt 1724.
Albrecht, Peter, Geschichte der Kirchenmusik in Schotten. in: Joachim Schlichte, Thematischer Katalog der kirchlichen Musikhandschriften in der Liebfrauenkirche zu Schotten. Tutzing: Schneider 1985. (Die Läuteordnung ist hier wie auch sonst häufig Bestandteil der Dienstanweisung für den Glöckner.)
Balz, Hans Martin, Glocken als kirchliches Gerät. in: Küsterbund der Ev. Kirche in Hessen und Nassau, Fach- und Mitteilungsblatt, Nr. 72, Juli 1985
Dr. B. [=Becker], Die Kirchenglocken zu Alsfeld. in: Mitteilungen des Geschichts- und Altertums-Vereins der Stadt Alsfeld. 2. Reihe, Nr. 2.
Diehl, Wilhelm, Zur Geschichte des Gottesdienstes und der gottesdienstlichen Handlungen in Hessen, Gießen 1899.
Gevert, Fritz, Ambts-Bestallung des Glöckners zu Ober-Ramstadt, in: Glaube und Heimat, Ev. Gemeindeblatt für Ober-Ramstadt, 4 (1934), April.
Läuteordnung für evangelisch-lutherische Gemeinden. in: Amtsblatt der VELKD, 1956, Band I Stück 5, Nr. 31.
Läuteordnung für Ober-Ramstadt. in: Glaube und Heimat 10 (1948), Dezember.
Müller, Volker, Ratschläge zur Läuteordnung in evangelischen Kirchen, in: Beratungsausschufs für das Deutsche Glockenwesen (Hrsg.), Glocken in Geschichte und Gegenwart, bearb. v. Kurt Kramer, Karlsruhe 1986, S. 40-47.
Niemann, Hartwig, Art. Glocken, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. XIII, Berlin/New York: de Gruyter.
Reindell, Walter, Die Glocken der Kirche. in: Leiturgia Bd. IV, insbes. S. 876 ff., Kassel: Bärenreiter.
Läuteordnung Blatt 1
für die Kirche/Gemeinde …
Allgemeine Hinweise
1. Die Glocken werden durchnumeriert, bei der größten mit I beginnend.
2. Beim Läuten mehrerer Glocken (Gruppengeläute) beginnt man stets mit der kleinsten Glocke. Erst dann, wenn diese regelmäßig ausschwingt, wird mit dem Läuten der nächsten Glocke begonnen und so fort. Das Läuten wird in der gleichen Reihenfolge beendet: Die kleinste Glocke verstummt zuerst, die größte beteiligte Glocke läutet am längsten.
3. Das Läuten dauert in der Regel einen sogenannten Puls lang, d. h. etwa 6 Minuten. Bei besonderen Anlässen, etwa in der Neujahrsnacht, können mehrere Pulse geläutet werden. Zwischen zwei Pulsen sind etwa 3 Minuten Pause.
4. Vorspann oder Signieren: Dem Läuten mehrerer Glocken (Gruppengeläut) geht das Läuten von einer oder zwei Glocken voran, das etwa eine Minute lang währt. Nach einer Pause von 5 - 10 Sekunden folgt dann das Gruppengeläut. Der Vorspann zeigt Besonderheiten des Gottesdienstes an (Taufe, Abendmahl).
5. Nachschlag: Die tiefste Glocke, die an einem Gruppengeläut beteiligt ist, läutet nach einer Pause von 5 - 10 Sekunden nochmals für eine Minute allein.
6. Die Angaben für das Läuten zu den verschiedenen Anlässen befinden sich auf Blatt (2)
Die Glocken
der Kirche/Gemeinde …
Glocke Nr. |
Ton |
Gußjahr, Gießer |
Name der Glocke, Inschriften |
Läuteordnung Blatt 2
I. Hauptgottesdienst
Allgemeines
a) Einläuten am Vorabend mit dem gleichen Geläut wie zum Gottesdienst (Zusammenläuten, siehe dort)
b) 1. Vorläuten:
2. Vorläuten:
c) Signieren (siehe Blatt 1 Punkt 4)
bei Taufe:
bei Abendmahl:
d) Läuten während der Taufhandlung:
e) Läuten während der Einsegnung bei der Konfirmation:
f) Läuten zum Vaterunser:
Zusammenläuten (vor Beginn des Gottesdienstes)
l. an Sonn- und Feiertagen allgemein:
2. an Festtagen (Weihnachten, Ostern, Himmelfahrt, Pfingsten, Konfirmation):
3. am heiligen Abend:
4. am Gründonnerstag Abend:
5. in der Osternacht:
6. an Bußtagen und zum Beichtgottesdienst:
7. am Karfreitag:
II. Gottesdienste und Andachten an Wochentagen:
III. Taufe:
während der Taufhandlung:
IV. Trauung: während der Einsegnung:
V. Beerdigung:
a) Anzeigen eines Sterbefalls
b) zur Trauerfeier:
c) während des Weges zum Grabe:
d) Gedenk- und Gebetsläuten (falls der Friedhof außer Hörweite der Kirche liegt):
VI. Während des Vaterunser:
VII. In der Neujahrsnacht:
VIII. Tägliches Gebetsläuten:
am Morgen:
am Mittag:
am Abend:
Am Vorabend von Sonn- und Feiertagen ersetzt das Einläuten des Sonn- und Feiertags (siehe oben I. a) das Abendläuten.
(Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Dr. Balz)