Die Neue Orgel
Ein Aufsatz von Rainer Noll anläßlich des Orgelneubaus in Wiesbaden-Bierstadt 1972
Jede Zeitepoche hat ihre Spuren an der tausendjährigen Kirche Bierstadts hinterlassen, die heute eine gewachsene, polystilistische Einheit bildet. Der renovierte Innenraum hat nun neben anderen Akzenten einen besonders dominierenden Akzent erhalten, der dem Raum ein ganz neues Gepräge verleiht: die neue Steinmeyer-Orgel. Sie ist gegenüber den Arbeiten mehr restaurativen Charakters etwas vollkommen Neues und damit wohl die deutlichste Spur, die unsere Zeit in dem altehrwürdigen Raum hinterläßt. Gleich über dem Haupteingang erhebt sie sich auf der Westempore bis hinauf unter das Deckengewölbe. Trotz ihrer majestätischen Größe wirkt sie nicht erdrückend in dem kleinen Raum, dessen Rückwand sie angenehm aufgliedert. Der Orgelprospelkt selbst - er geht durch Herrn Architekt Rainer Schells und meine Änderungsvorschläge aus einem Entwurf der Firma Steinmeyer hervor - ist geprägt durch die asymmetrische Zusamenstellung der Pfeifen in großen Terzen bei symmetrischem Gehäuseaufbau. Etwas Besonderes, das nicht aus dem Rahmen des Gesamten fällt!
Jedes der drei Werke hat sein eigenes Gehäuse und ist klar von den anderen getrennt: Hoch oben in der Mitte das Haupttwerk (sichtbar der Principal 8' aus einer Zinnlegierung), darunter das Schwellwerk (hinter den Schwelljalousien in preußisch-blau) und zu beiden Seiten die Pedaltürme (sichtbar der Oktavbaß 8' aus Kupfer). Um diesen akustisch und optisch günstigsten Aufbau der Orgel zu ermöglichen, wurde die zweite barocke Empore an der Westseite entfernt (man muß es schon erwähnen; denn wer kann sich beim jetzigen Anblick noch die zwei wuchtig übereinanderliegenden Emporen mit der fast in himmlische Höhen an die Decke gequetschten alten Orgel vorstellen?). Außerdem besteht nun die Möglichkeit, einige Instrumentalisten und einen kleinen Chor um die Orgel herum zu gruppieren, d.h. die Orgel hat bei kirchenmusikalischen Aufführungen einen idealen Platz; ebenso der Organist, der ganz zentral sitzt. Dennoch ist die neue Orgel nicht in erster Linie als Begleitinstrument entworfen worden. Neben ihrer liturgischen Funktion in den sonntäglichen Gottesdiensten soll sie als Soloinstrument in Konzerten dienen. Bei der Gestaltung der Disposition, die sich am süddeutsch-französischen Klangideal orientiert, ging es darum, auch der Literatur der deutschen und französischen Romantik ein Recht auf stilgemäße Wiedergabe einzuräumen, ohne gleich in die Fußstapfen desjenigen Orgelbaus des letzten Jahrhunderts treten zu müssen, der mit gewissem Recht als dekadent bezeichnet wird. Andererseits ging man im Zuge der Orgelbewegung lange genug von hochbarocken Vorstellungen verblendet an den echten Errungenschaften des romantischen Orgelbaus vorbei, was auch gar nicht im Sinne eines ihrer Initiatoren, Albert Schweitzer, war, der sich schon damals um Fortschritt in der Synthese statt um einseitige historische Rückgriffe bemühte.
Ja, die Romantik selbst hat ihre Vorläufer nie so verleugnet, wie wir bisher die Romantik verleugneten. Das Pendel beginnt sich wieder auf eine vernünftige Mitte einzuschwingen.
Die Disposition ist für den Wiesbadener Raum und darüber hinaus eine Besonderheit. Sie ist, wie sie jetzt vorliegt, in einer längeren Auseinandersetzung "gewachsen". So verschoben sich mit der Zeit die Akzente immer eindeutiger zugunsten des Schwellwerkes, und es wurde aus einem deutschen Brustwerk ein französisches Schwellwerk, in dem sich immer noch ein deutsches Brustwerk versteckt (das Schwellwerk steht auch räumlich anstelle des Brustwerks). Während das schlichte Hauptwerk nur Grundstimmen, Trompete und Mixtur beherbergt, befinden sich in dem am rechsten besetzten Schwellwerk vor allem die farblichen Stimmen und Solomischungen (z. B. Cornett, Sesquialtera). Deshalb hat dieses Werk den Tremulanten mit am Spieltisch regulierbarer Frequenz. Das Plein jeu ("Volles Spiel") ermöglicht eine noch im Tutti aller gekoppelten Werke hörbare Schwellwirkung (orchestraler Effekt bei symphonischer Orgelliteratur!).
Das Pedal ist trotz seiner schwachen Besetzung durch das Labialcornett solofähig. Von der 16' - bis zur 2' - Basis. (Labial-Cornette dieser Zusammensetzung ließ der Orgelsachverständige Friedrich Bihn bereits an zwei Orgeln in Hamburg verwirklichen.) Dank guter Mensuren und einer hervorragenden Intonation dürfte sich nun auf diesem Instrument fast die gesamte Orgelliteratur darstellen lassen.
Um den Organisten möglichst frei und unabhängig zu machen, wurde der Anlage der Spielhilfen besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Ausgangspunkt der Überlegungen war der von Friedrich Bihn entworfene Spieltisch der großen Steinmeyer-Orgel in St. Michaelis, Hamburg. In Bierstadt konnte nun eine Spielhilfenanlage verwirklicht werden, die für eine Orgel dieser Größe (die Bierstadter Orgel ist mit 21 klingenden Stimmen und 1523 Pfeifen ein mittelgroßes Instrument) etwas Besonderes, wenn nicht gar etwas Einmaliges ist.
Bei mechanischer Spieltraktur und elektropneumatischer Registertraktur stehen dem Spieler vier sogenannte Setzer-Kombinationen zur Verfügung. Es handelt sich hier um ein einfaches Computer-System, mittels dessen frei zusammenstellbare Klangfarbenmischungen vorprogrammiert (''gesetzt'') und gespeichert werden können. Eine solche gespeicherte Mischung kann nun der Spieler über Druckknöpfe oder Pistons (Druckknöpfe für die Füße), die in Wechselwirkung stehen, während des Spiels selbst abrufen, je nachdem, ob er eher eine Hand oder einen Fuß zum Schalten frei hat. Alle vier Kombinationen sind für Hauptwerk und Schwellwerk über weitere Druckknöpfe und für das Pedal über weitere Pistons nicht nur getrennt abrufbar, sondern auch getrennt programmierbar (Teilsetzer)! Das Tutti ist ebenfalls als Druckknopf und Piston in Wechselwirkung angelegt und funktioniert sozusagen als festprogrammierte Kombination, d.h. die Schaltung läuft wie bei den frei programmierbaren Kombinationen über die Registerwippen, so daß man per Hand bei gedrücktem Tutti nach Wunsch abregistrieren kann. Außerdem steht das Tutti mit allen General- und Teilsetzern in Wechselwirkung. Darüber hinaus sind alle Registerwippen links von den Manualen so angelegt. daß der Spieler auch hier noch leicht in die Kombinationen hineinregistrieren kann. Da den Koppeln als Mittel der Steigerung der Mischung neuer Klangfarben und der Ergänzung der Werke untereinander große Bedeutung zukommt, sind diese in dreifacher Wechselwirkung schaltbar, und zwar links mittels Wippen (die auch in die Kombinationen genommmen werden können), rechts mittels Druckknöpfen unter dem Hauptwerk und mittels Pistons mit dem rechten Fuß. Diese kompliziert anmutende Anlage der Spielhilfen macht den Spieltisch keineswegs überladen und unübersichtlich (sie ist jedenfalls leichter zu überschauen als ihre schriftliche Erläuterung vermuten läßt). Trotz dieser Anlage ist es in Bierstadt nicht wie in der spätromantischen Dekadenz, daß im technischen Fortschrittstaumel die Klangschönheit in Vergessenheit geriet! Die technische Anlage ist hier nur ein Hilfsmittel für den Organisten, das Wesentliche aber ist der Klang. Auch hat eine solch vielseitige Anlage, die manche der größten Orgeln Deutschlands nicht zu bieten haben, nichts mit Luxus, sondern mit Vernunft und Zweckmäßigkeit zu tun. Die Maßstäbe sollten hier von den Erfordernissen des Orgelspiels her gesetzt werden. In dieser Hinsicht will die Bierstadter Orgel richtungsweisend und maßstabsetzend sein.
Dank einer vernünftigen Zusammenarbeit aller Verantwortlichen und nicht zuletzt dank der vielen Spender in der Gemeinde war es nun der Firma Steinmeyer (Oettingen/Bayern) möglich, in Bierstadt ein Instrument zu erstellen, das nicht mit dem bricht, was sich in langer Tradition als gut erwiesen hat (z.B. Werkprinzip, Schleifladen, mechanische Spieltraktur), gleichzeitig die Romantik nicht verleugnet und sich frei von historischen Vorurteilen der modernsten Mittel der Spielhilfen aufs Sinnvollste bedient. Insgesamt kann gesagt werden, daß hier ein Stück Kultur verwirklicht werden konnte. - Rainer Noll