Die Vorgängerorgeln

Wir wissen von insgesamt vier Orgeln in der Bierstadter Evangelischen Kirche. Eine erste Orgel wird in einem Schriftwechsel des Ritterstifts Bleidenstadt im Jahr 1682 erwähnt. Hier wird angedeutet, dass im Langwerk der Kirche eine Orgel "angehängt" werden soll, man will die Gemeinde gewähren lassen, da nur der Chor dem Ritterstift gehöre. Es dürfte ein kleines Instrument gewesen sein. Vermutlich hatte diese Orgel ein Manual und wenige Register, um nicht zu weit in der Raum hineinzuragen. Dass sie existierte, belegt auch die "Bierstadter Schulkompetenz" von 1693 mit einem knappen Satz in der Rubrik Accidentia "Für die Orgel bei der Hochzeit zu schlagen, ist laut Consitorial-Befehl zu entrichten: zehn Albus". Die Orgel war also gebaut worden, wurde regelmäßig gespielt und der Gemeindegesang von ihr begleitet. Die zehn Albus, die der Organist für das Begleiten einer Hochzeit bekam, waren Silbermünzen mit einem Gegenwert von etwa einem Pfund Reis oder zwei Maß Bier. Gespielt hat das Instrument sehr wahrscheinlich der Bierstadter Schullehrer, um 1690 Johann Georg Schrumpf und danach bis 1712 Friedrich Wilhelm Börner, der um die Jahreswende aus dem Schuldienst entlassen wurde. Im Jahr 1711 wird dann eine neue Orgel erwähnt, so dass die erste Orgel der Bierstadter Kirche nicht einmal dreißig Jahre gespielt hat

Die "neue Orgel" von 1711 erscheint in den Akten einer Honorarnotiz: Honorar für einen unbekannten Orgelbauer u. a. 1711: 20 Gulden, 1712: 23 Gulden. Mit der ersten Orgel im Chor war man unzufrieden, auffällig kurze Zeit später wird also ein zweites Instrument gebaut. Die Disposition der Orgel von 1711 ist in einer Aufzeichnung aus dem Jahre 1817 überliefert. Sie besaß auf einem Manual und Pedal folgende Register:

Orgel von 1711

(Manual) Principal 8‘ • Octav 4‘ • Octav 2‘ • Mixtur 3fach 1‘ • Cimbel 1/2‘ ("erbärmliches Register, welches nicht mehr zu reparieren ist. Dafür ein Salicional", Anm. des Orgelsachverständigen Kantor Herrmann 1817) • Gedackt 8‘ • Terz 1 3/5‘ • Spitzflöte 8‘ • Quint 1 1/2‘
(Pedal) Subbaß 16‘ • Principalbaß 8‘ • Octavbaß 4‘ • Trompet- oder Posaunbaß 8‘

Die Orgel wurde von hinten gespielt und stand auf einer Empore weit höher als die jetzige Orgel. Die Zimbel bezeichnete der Protokollant von 1817 als "scheußlich". Der Idsteiner Orgelbaumeister Weißhaupt ist im Jahre 1733 im Zusammenhang mit der Bierstadter Orgel erwähnt. 1935 wurde das Instrument ersetzt durch eine Orgel, die Walcker um 1900 baute (möglicherweise umfangreiche Pfeifenmaterial einer anderen Vorgängerorgel verwendend), elektropneumatisch umbaute und in die Bierstadter Kirche versetzte. Diese Orgel hatte auf zwei Manualen und Pedal folgende Disposition:

Orgel von 1900

(Manual 1) Bordun 16‘ • Prinzipal 8‘ • Flöte 8‘ • Gamba 8‘ • Oktave 4‘ • Flöte Traverse 4‘ • Quinte 3‘ • Oktav 2‘ • Mixtur 4fach
(Manual 2) Gedackt 8‘ • Salicional 8‘ • Flöte 4‘ • Voc celestis 8‘ • Sesquialter 3fach
(Pedal) Subbaß 16‘ • Prinzipal 8‘ • Oktavbaß 4‘ • Violon(bass) 16’

Die Orgel wurde erbaut von der Firma Walcker - unbestätigt, aber durchaus vorstellbar ist, daß mindestens zwei Pedalregister der alten Orgel von 1900 von dem Igstadter Orgelbauer Voigt stammen. Wie sie in die Bierstadter Orgel kommen, ist unklar, sie konnten immerhin sicher eingelagert werden und werden vermutlich bei der Restaurierung einer anderen Voigt-Orgel eine Rolle spielen. Die übrigen Pfeifen der alten Orgel von 1900 sind wohl verloren, zum Teil wurden sie an Sponsoren der neuen Orgel von 1972 verkauft, zum Teil auch fortgeworfen.

Wie schon erwähnt, nahm die Firma Walcker 1934-1935 einen Umbau an der Orgel vor, ihr Opus 2428. Es wurde ein elektrischer Spieltisch eingebaut und alle Register wurden umintoniert. An neuen Registern kamen hinzu im 1. Manual statt Gamba eine Trompete 8’, im 2. Manual eine Waldflöte anstelle der Vox celestis, hinzugebaut wurden die Quinte 1 1/3’ und der Scharff 3fach und im Pedal ersetzte man das Register Violon 16’ durch eine Bauernflöte 2’.

Orgel von 1934

(Manual 1) Bordun 16‘ • Prinzipal 8‘ • Flöte 8‘ • Oktave 4‘ • Flöte Traverse 4‘ • Quinte 3‘ • Oktav 2‘ • Mixtur 4fach • Trompete 8‘
(Manual 2) Gedackt 8‘ • Salicional 8‘ • Flöte 4‘ • Waldflöte 2‘ • Quinte 1 1/3‘ • Scharff 3fach
 • Sesquialter 3fach
(Pedal) Subbaß 16‘ • Prinzipal 8‘ • Oktavbaß 4‘ • Bauernflöte 2‘

Die Disposition der alten Orgel im Vergleich zur neuen von 1972 gibt zu denken, sie ist im Hauptwerk fast identisch (dürfte aber aufgrund anderer Mensuren und Intonation doch anders geklungen haben), die alte Orgel hatte noch die Quinte 3’ mehr, das 2. Manual besaß statt des in der neuen Orgel recht spitzen Prinzipalregisters Oktave 2’ die Waldflöte 2’ und einen Sesquialter, war also eher als Solomanual zu verstehen. Das barocke Werkprinzip, so wie wir es heute verstehen, ging dieser Orgel ab, ihr fehlte auch die Pedalmixtur und das Fagott 16’ als dominierendes Pedalregister, das sich schon in der Orgel von 1711 findet und wichtig für die "Gravität" des Gesamtklanges ist.

Im Abnahmegutachten schreibt Kirchenmusikdirektor Kurt Utz, übrigens in der Frage des Werkcharakters zu einem anderen Schluss kommend: "Überhaupt ist der Gesamtklang von großem Wohllaut, wozu nicht zuletzt der niedere Winddruck beiträgt. Durch die Hinzufügung der zwei Stimmen Quinte 1 1/3‘ und Scharf 3f., die beide echt barockes Klangwesen zeigen, ist der Werkcharakter des Instrumentes gesichert. Die Ansprache des Pfeifenwerks geht mit verblüffender Genauigkeit vor sich, ein Beweis für die Güte der elektrischen Traktur, der Goldkontakte große Zuverlässigkeit und Dauer verleihen. Die Neukonstruktion der Laden und des Schwellwerkes, sowie die zweckmäßige Anordnung des Spieltisches machen einen vorzüglichen Eindruck."

[Thomas Schwarz 2005-2020]

(Quellen: Franz Bösken, Quellen und Forschungen zur Orgelgeschichte des Mittelrheins, Schott; Orgelarchiv der Firma Walcker; Kirchenbücher der evangelischen Kirchengemeinde Wiesbaden-Bierstadt)